Behavioral Design: User-Centred Design auf einem neuen Level.

Design beeinflusst unsere Wahrnehmung — immer beabsichtigt, häufig auch unbeabsichtigt. So kommt es, dass wir manchmal nicht verstehen, warum Menschen das tun, was sie tun. Um gute Produkte zu entwickeln, müssen wir jedoch wissen, was die Wahrnehmung und damit auch die Entscheidungen der Menschen treibt. Welche Faktoren beeinflussen uns, ohne dass wir es merken? Wie treffen wir Entscheidungen? Welche Momente sind kritisch auf dem Weg dahin? Behavioral Design ist eine Methodik, die versucht das Verhalten von Menschen zu verstehen um Antworten darauf zu geben, mit welchen Designprinzipien Produkte und Services verbessert werden können, damit Nutzer ihre Ziele besser erreichen können.

Anita Jacob-Puchalska
7 min readApr 24, 2020

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Design beeinflusst uns — bewusst und häufig auch unbewusst.

Es gibt kein neutrales Design. Alles um uns herum ist in irgendeiner Weise designt, gestaltet, konzipiert. Jedes Element ist auf eine Gestalt festgelegt, genauso wie seine Position, die Anordnung zwischen anderen Elementen, und die Umgebung. Mit jeder Designentscheidung werden aber auch Menschen, die damit in Berührung kommen, in ihrem Denken oder ihrem Handeln beeinflusst. Sie wählen nach Farbe oder Form, sie akzeptieren die Vorauswahl, sie drücken die Tür, einen Knopf oder aus Versehen den Notruf, sie klicken auf einen der ersten drei Links, sie bestellen das gleiche wie ihre Begleitung, sie hören nicht auf, weiterzuscrollen.

Design ist Problemlösung.

Jedes Design bietet die Lösung für mindestens ein konkretes Problem. Jede Annahme, Vorgabe oder Beschränkung, die bei der Entwicklung des Produktes berücksichtigt werden müssen, beeinflussen das Design in seiner Konzeption und Ausführung. Als Designer gestalten wir die Umgebung, in der Menschen mit Produkten interagieren.

Wie können wir Produkte und Services so gestalten, dass sie den Menschen einen Nutzen bieten, ohne sie ungewollt zu beeinflussen? Wie kann der Einfluss zum Vorteil des Menschen gebündelt werden? Wie sieht Produktdesign aus, das den Menschen nicht bedrängt, sondern dabei unterstützt, die richtige Entscheidung zu treffen?

Das Benutzen von Produkten und Services verlangt nach Aktionen — und somit nach Entscheidungen.

Jede Interaktion mit einem Produkt oder Service beruht auf einer Reihe von Bewertungen auf Seiten der Nutzer. Hilft mir das weiter? Interessiert mich das? Verstehe ich das? Suche ich hier weiter oder probiere ich es woanders? Melde ich mich an, obwohl ich nicht weiß, was ich bekomme? Kann ich diesem Service meine Handynummer anvertrauen? Klicke ich mich durch alles durch, obwohl es verwirrend ist und ich nicht weiß, ob ich mein Ziel erreiche? Jede einzelne dieser Entscheidungen kann eine Hürde darstellen und die Nutzer von ihrem Weg abbringen. Jeder dieser Momente, in denen der Nutzer etwas bewertet, kann über den Erfolg oder Misserfolg eines Produktes bestimmen.

Der Mensch verhält sich irrational.

Die simple und einleuchtende Annahme, dass wir vernünftige Entscheidungen für uns selbst treffen können, ist leider längst überholt. Unsere Einschätzungen werden von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Das gilt natürlich auch für die User. Du glaubst, du hast alles richtig gemacht: Das Interface ist einfach gehalten und logisch aufgebaut, es gibt alle relevanten Informationen und genügend Auswahlmöglichkeiten — und trotzdem machen die Nutzer nicht das, was sie sollen. Warum?

Behavioral Economics untersuchen, wie Menschen Entscheidungen treffen.

Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass es Faktoren gibt, die ein Verhalten wahrscheinlicher machen als ein anderes. Doch welche sind die Faktoren, die sich auf das Verhalten von Menschen auswirken? Was beeinflusst wie genau die Wahrnehmung? Woran erkenne ich kritische Momente in der Entscheidungsfindung? Wie kann ich dieses Wissen im Produktdesign nutzen?

Antworten hierauf finden wir im Forschungsbereich Behavioral Economics (oder Verhaltensökonomie), der sich damit beschäftigt, wie Menschen Entscheidungen treffen. Anhand von Experimenten wird untersucht, was das Denken von Menschen in bestimmten Situationen beeinflusst. Die Ergebnisse dieser Studien helfen uns, die Systematik zu verstehen, mit der unser Gehirn Informationen verarbeitet, bewertet und Entscheidungen trifft. Sie zeigen auch, dass es wiederkehrende Denkmuster gibt, die unser Urteilsvermögen beeinflussen, ohne das wir uns dessen bewusst sind. Unsere Entscheidungen werden also häufig von einem Autopiloten gelenkt.

Der Autopilot im Gehirn nimmt gern Abkürzungen.

Unser Gehirn ist darauf angelegt, möglichst effizient Daten zu verarbeiten. Wir werden ununterbrochen von einer Flut von Informationen und Sinneseindrücken überschwemmt, dass es schier unmöglich ist, diese bewusst zu verarbeiten um stets zu einer rationalen Einschätzung zu gelangen. Daher arbeitet die Rechenmaschine in unserem Kopf mit Abkürzungen, die zwar nicht unbedingt ein korrektes Ergebnis erzielen, dafür aber nah genug dran sind und eine Menge Zeit und Energie sparen. Diese Denkmuster werden in der Psychologie als kognitive Verzerrungen bezeichnet. Sie sind ein “Sammelbegriff für systematische fehlerhafte Neigungen beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen. Sie bleiben meist unbewusst und basieren auf kognitiven Heuristiken.” (danke, Wikipedia) Kognitive Verzerrungen sind also eine vertretbare Nebenwirkung, angesichts der Informationsflut, die in jeder Minute verarbeitet werden muss.

Verhaltensmuster sollten im Design berücksichtigt werden.

Menschen treffen also Entscheidungen auf Basis von kognitiven Abkürzungen (Heuristiken), die häufig in irrationalen Einschätzungen münden. Das Gute hieran ist, dass diese Verzerrungen systematisch auftauchen und somit vorhersehbar sind. Als Designer ist es hilfreich, diese Verhaltensmuster zu kennen. Sie zeigen auf, welche Faktoren das Denken beeinflussen und wie Entscheidungen unbewusst gelenkt werden.

Drei kognitiven Verzerrungen beschreibe ich im Folgenden genauer: Den Ankereffekt, den Decoy-Effekt und den Default-Effekt. Sie sind nur eine kleine Auswahl der Effekte, die beim Design von z.B. Benutzeroberflächen oder User Flows relevant sind.

Der Ankereffekt (Anchoring)

Der Ankereffekt beschreibt ein Phänomen, bei dem Menschen in ihrer Einschätzung von einem Zahlenwert beeinflusst werden, mit dem sie zuvor konfrontiert wurden. Diese Zahl gilt dann unterbewusst als Vergleichswert, auch wenn die gegebene Information für die Urteilsfindung völlig irrelevant ist. Dieser Anker verzerrt also die eigene Einschätzung systematisch in Richtung des gegebenen Zahlenwertes. Der Ankereffekt ist eine bestimmte Form des Primings. Er zeigt, dass die eigene Urteilsfindung und somit auch Entscheidungen von unpassenden oder willkürlich gegebenen Informationen beeinflusst werden können, ohne dass Menschen sich dessen bewusst sind.

Das heißt für Designer, dass sie sehr vorsichtig damit sein müssen, Fakten oder Zahlen vor den User zu setzen, da diese das weitere Verhalten beeinflussen.

Genutzt wird dieser Effekt beispielsweise, um Nutzern ein nach oben verzerrtes Bild von den Marktpreisen zu vermitteln. Steht dann neben dem zu hoch angesetzten Preis ein Rabatt, so nimmt der Nutzer den reduzierten Preis viel häufiger als gutes Angebot wahr als ein Nutzer, der nicht zuvor mit dem zu hoch angesetzten konfrontiert wurde.

Der Decoy-Effekt

Wir treffen gern Entscheidungen, die auf Vergleichen beruhen, weil wir sonst nicht wissen, was wir eigentlich wollen. Das Problem dabei ist, dass wir Alternativen für den Vergleich heranziehen, die direkt verfügbar, allerdings häufig auch absolut unpassend sind. Dieses Vorgehen hilft uns zwar, schneller Entscheidungen zu treffen, heißt aber auch, dass die Entscheidung von eigentlich irrelevanten Informationen beeinflusst wird.

Dieser Effekt wird Decoy-Effekt genannt und häufig im Marketing eingesetzt. Dabei wird einem Angebot von zwei ähnlichen Produkten ein drittes Produkt als Köder (“decoy”) hinzugefügt, der die Entscheidung für eines der beiden anderen Produkte erleichtern soll. Der Köder weist dabei Eigenschaften auf, die im Vergleich zum ersten Produkt deutlich unterlegen sind, im Vergleich zum zweiten Produkt zumindest schwache Vorteile, zugleich aber starke Nachteile hat. Als Beispiel könnte der Köder also ähnliche Funktionen haben, aber deutlich teurer sein ohne einen überzeugenden Vorteil zu bieten. Diese Asymmetrie in den Eigenschaften erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Kunde für das in diesem Beispiel erste Produkt entscheidet.

Der Default-Effekt

Menschen wählen gern die einfachste, mit den geringsten Hürden verbundene Option, bei der keine aktive Entscheidung notwendig ist. Das kann je nach Situation natürlich verschiedene Gründe haben, allerdings wurde in Experimenten gezeigt, dass die Bereitschaft vergleichsweise hoch ist, die Voreinstellung einfach zu akzeptieren.

Gründe für den Default-Effekt können generell verschiedene sein, zum Beispiel das Vermeiden von komplexen Entscheidungen oder die Interpretation der Voreinstellung als Signal, das zeigt, was von einem erwartet wird im Sinne einer gesellschaftlich gewünschten Option.

Angewendet wird dieser Effekt beispielsweise bei Druckeinstellungen, indem die Optionen schwarz-weiß oder beidseitiger Druck vorgegeben sind, um Papier und Farbe zu sparen. Auch beim Thema Organspende hat sich gezeigt, dass Menschen die Vorauswahl tendenziell akzeptieren; so ist der Anteil der “Spender” deutlich höher in Ländern, in denen man der Default-Option widersprechen muss.

Das Beispiel Organspende zeigt deutlich, dass beim Behavioral Design die ethische Komponente immer berücksichtigt werden muss, denn: Ist es vertretbar, Menschen ohne deren aktive Einverständniserklärung tatsächlich zu Organspendern zu deklarieren?

Behavioral Design hilft, die User Experience zu verbessern.

Die Erkenntnisse aus den Behavioral Economics helfen, das Verhalten von Menschen besser zu verstehen und zeigen, dass in vielen irrationalen Fehleinschätzungen ein Muster erkennbar ist. Verstehen wir diese systematischen Denkfehler, so können wir daran orientiert Produkte und Services entwickeln, die den Nutzern erleichtern, Entscheidungen zu treffen.

Behavioral Design nutzt die Prinzipien aus der Verhaltensökonomie, um ein tieferes Verständnis für die Wahrnehmung der Dinge durch die Nutzer zu schaffen. Damit wird es möglich, kritische Momente zu identifizieren, in denen die Wahrnehmung der Menschen und ihre Entscheidungen beeinflusst werden. Der Behavioral-Design-Ansatz hilft also, Produkte und Services zu entwickeln, die sich an der Funktionsweise unseres Gehirns orientierten. Nutzer können dann ihre Ziele einfacher erreichen, da beispielsweise Prozesse weniger verwirrend sind, weniger kognitiven Aufwand benötigen oder einfach schneller gehen, weil für sie irrelevante Schritte entfernt wurden.

Behavioral Design bietet ein Set an Methoden als Werkzeuge, die helfen, Entscheidungen der Nutzer vorhersehbarer zu machen. Damit wird es letzten Endes möglich, das Verhalten der Menschen zu designen. Wichtig ist, dass diese Methoden genutzt werden, um Produkte zu entwickeln, die den Menschen einen tatsächlichen Nutzen bieten, nicht um sie z.B. für höhere Conversions zu manipulieren.

Produktdesigner haben alle Mittel in der Hand, um die Umgebungen zu gestalten, in denen ihre Nutzer interagieren. Behavioral Design bietet eine Reihe von Methoden, mit denen gewünschtes Verhalten bei Menschen hervorgerufen werden kann — um die Bedürfnisse der Nutzer zu erfüllen und so die User Experience zu verbessern.

Weitere Artikel, die helfen, die User Experience zu verbessern:

Emotional Design: How to improve products with emotions.

Quellen:

Dan Ariely (2010) — Predictably Irrational. Bestellbar bei Amazon (Affiliate-Werbelink).

Daniel Kahneman (2012) — Thinking, Fast and Slow. Deutsche Version bei Amazon (Affiliate-Werbelink).

Action Design Podcast (2018): Ruth Schmidt — Integrating Behavioral Science and Design Thinking.

Eine kurze Einführung von Dan Ariely in Behavioral Economics bei Youtube,

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